Kapitel 1
„Ich kenne jemanden, für den ist es höchste Zeit fürs Bettchen“, unterbrach ich das friedvolle Puppenspiel meiner kleinen Schwester auf dem Wohnzimmerboden in einem Ton, der zu meinem Erschrecken, fast genauso wie der meiner Mutter klang. „Bitte Emily, nur noch ein bisschen, ich bin noch gar nicht müde“, winselte Sophie und schaute mich dabei mit ihren großen, braunen Kinderaugen hoffnungsvoll an. Es war das übliche abendliche Theater, das sie spielte, wenn sie ins Bett musste. „Nein Sophie, es ist jetzt Schlafenszeit, morgen ist auch noch ein Tag, dann kannst du weiterspielen!“, erklärte ich ihr deutlich. Ich hatte mittlerweile von ihren täglichen, abendlichen Querelen mehr als genug. „Aber …“, begann sie zu quengeln, ich ließ jedoch keine weiteren Einwände zu. „Nein Sophie, es ist jetzt Schlafenszeit, keine Widerrede!“
Sophie schmollte zwar, als ich sie an ihrer Hand nahm, stand aber ohne weiteres Murren auf und ließ sich von mir widerstandslos zum Badezimmer begleiten. Bereits nach wenigen Metern fiel mir auf, dass ihr Gang ein wenig eigenartig war. Sie lief mit deutlich weiter gespreizten Beinen als üblich, ganz so, als würde sie den Gang einer Ente imitieren. Zunächst glaubte ich noch an ein Spiel von ihr, ein Spiel, mit dem sie sich den Weg zum Badezimmer ein wenig aufregender gestaltete, das sie vielleicht so im Kindergarten gelernt hatte. Doch dann, mit einem Mal, dämmerte mir, weshalb sie so komisch lief.
„Sophie, bleib mal bitte stehen“, bat ich sie in düsterer Vorahnung und stoppte mit einem Mal. Ich hob ihr Sommerkleidchen nach oben und bekam eine völlig durchnässte Windelhose zu Gesicht. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie bisher nicht ausgelaufen war. „Du solltest doch zu mir kommen, wenn du aufs Töpfchen musst“, belehrte ich sie säuerlich. Beschämt blickte sie zu Boden. „Ich hab so schön gespielt und wollte nicht aufhören und dann, dann hab ich plötzlich schon Pipi gemacht, bevor ich was sagen konnte“.
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